Ich laufe durch Tokio. Es ist spät am Abend. Die Neonreklamen leuchten über mir. Ich will kurz auf eine Karte sehen. In dem Moment sehe ich die Nachricht auf Skype.
Meine Oma ist letzte Nacht gestorben.
Auch das Sterben gehört zum Reisen dazu. Das Leben bleibt nicht still stehen während des reisens. Manchmal kommt mir Reisen vor wie ein Kinderzimmer, das randvoll mit Spielzeug gefüllt ist. Wo es nur gute Momente gibt und die Sommerferien niemals aufhören.
Dieses Bild hat gerade einen tiefen Riß bekommen. Wie eine Glaskugel zum Schütteln mit einem hübschen Winter-Panorama, die auf den Boden gefallen und ist.
Meine Welt ist nicht mehr in Ordnung. Ich fühle mich konfus, wo ich durch die Straßen von Kabukicho laufe und mir ein riesiger Godzilla-Kopf von oben zunickt. Menschen stürmen an mir vorbei. Anwesend bin ich in diesem Moment nicht.
In Gedanken bin ich woanders. Wo, das weiß ich nicht so genau. Jedenfalls nicht hier. 9000 Kilometer weit weg.
Würde ich einfach Trauer empfinden, wäre es einfacher. Das tue ich aber gerade nicht. Ich bin betäubt. Das alles ist komplett surreal, abstrakt und ungreifbar. Und ich bin weit weg davon. Hier gibt es nichts, was an meine Oma erinnert oder mit ihrem Leben zu tun hat.
Im Unterschied zu anderen Todesfällen kam ihr Tod nicht unerwartet. Sondern als natürliches Ende des Lebens. Meine Oma war 95. Sie hatte Alzheimer. Die Krankheit ist unheilbar und die verbleibende Lebenserwartung nach Diagnose wird auf drei bis zehn Jahre geschätzt. Ich wußte, dass ihr Ende näher kam. Nicht nur als potentielle Möglichkeit.
Unsere Vorstellung von Tod und Sterben ist verkürzt. Wir sprechen vom Ende unseres Lebens als definitiven Zeitpunkt. Sterben beginnt viel früher. Schon Jahre davor. Und es betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern die ganze Familie. Katy Butler hat ein berührendes Buch über “den guten Tod” geschrieben, der uns abhanden gekommen ist. Die Akzeptanz des Sterbens ist ein wichtiger Punkt. Und die Akzeptanz, dass es unheilbare Krankheiten gibt, die das Sterben einleiten. Aus dem Buch “Knocking on Heaven’s Door: The Path to a Better Way of Death” haftet mir eine Geschichte in der Erinnerung. Eine Native American Frau veranstaltet ein Ritual und ein symbolisches Begräbnis für ihre Mutter, die unter schwerer Alzheimer leidet. “Meine Mutter, die ich kannte, ist tot.” sagt sie. “Dafür habe ich ein neues Familienmitglied bekommen, das ich noch nicht kenne und hiermit freudig in unsere Familie aufnehme.”
Mir ging es ähnlich. Die Begleiterscheinungen der Alzheimer-Erkrankung meiner Großmutter zeigten sich zunehmend. Bei den letzten Besuchen im Pflegeheim erkannte sie mich nicht mehr. Das war verstörend, und zwar ziemlich. Auch wenn ich davor wußte, dass dies in den späteren Stadien der Krankheit passieren würde. Ich war hinterher aufgewühlt. Meine Oma war in den letzten Jahren nicht mehr meine Oma, die ich kannte.
Viel später, nach der Beerdigung und zurück in Deutschland, gehe ich alte Fotos durch, die ich in Kartons bei meiner Mutter auf dem Dachboden finde. Familienausflug 1984. Meine Oma steht in Pamukkale in der Türkei. Und lacht ihr strahlendes Lachen. Und hat noch ihre schwarzen Haare. Genau so habe ich sie in Erinnerung. Und weniger die Person in den letzten Jahren. Die mich nicht mehr erkannte und die nicht mehr verstand, was ich sagte. Eine Unterhaltung mit ihr war nicht mehr möglich.
Aber im Moment stehe ich in Tokio. Und nicht am Sterbebett meiner Oma. Ich stehe an einem Ort, der nicht zu dem Thema gehört.
Am nächsten Morgen fahren Emily und ich von Tokio nach Yokohama. Wir besuchen den Zen Tempel Soji-ji. Der Ort passt zu diesem Tag. Als wir über das Gelände laufen, kommt mir die Idee: ein Memorial-Service für meine Großmutter. Dieses Ritual habe ich in in Kalifornien oft genug mitgemacht, als ich im Zen Kloster Tassajara gelebt habe. Emily war zusammen mit mir drei Wochen dort und sie kennt den Ablauf.
Ich lade die Liturgie aus dem Netz herunter und wir stellen uns im Freien vor die große Kannon Statue. Kannon ist der Bodhisattva, um dem sich im Zen alles dreht. Da steht diese große Steinstatue auf dem Berg vor uns und lächelt zu uns hinab. Die Göttin des Mitgefühls.
Ein paar Anwohner laufen vorbei. Wir rezitieren einmal das Daihi Shin Dharani, das Sutra des Mitgefühls: Namu kara tan no. tora ya ya. namu ori ya… Anschließend lese ich eine kurze Widmung vor.
Und dann stehen wir in Andacht vor der Statue. Kannon steht in stiller Andacht über uns und lächelt. Es ist ein kalter Tag im Februar mit glasklarem Himmel und strahlender Sonne.
Über uns kreist ein krächzender Schwarm Krähen.